sonntag, 11. februar 2024
Diese Nacht konnte ich wesentlich besser schlafen. Gut gelaunt ging es bei gar nicht mal so schlechtem Wetter per Bus zum Parque de Málaga. Im «La Canasta» herrschte Hochbetrieb. Wir bekamen gerade noch den letzten freien Tisch. Leute kamen, Leute gingen, bestellten, kauften Brot und süsse Teilchen oder warteten darauf, zu bezahlen oder einen Tisch zu ergattern. Ich behaupte, die Hälfte der Gäste war einheimisch, die andere Hälfte bestand aus Touristen. Wir assen ein herrliches Schinken-Tomaten-Olivenöl-Baguette und tranken – was sonst? – einen Café con leche und einen Zumo de naranja. Hmmm, lecker!
Wir hatten dieses Lokal zum Frühstücken ausgesucht, weil es neben dem Centro Pompidou de Málaga lag, das wir nun besuchen wollten. Kaum standen wir auf, um unsere Rechnung zu begleichen, war der Tisch wieder belegt.
Auffallend ist das Gebäude «El Cubo» (der Würfel) mit den bunten Glasflächen. Geplant war ein «temporäres Centre Pompidou» für fünf Jahre. Im Frühling 2015 wurde es durch den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy und die französische Kulturministerin Fleur Pellerin eingeweiht. Basierend auf dem Erfolg des Museums in Bezug auf die Besucherzahlen erneuerten Málaga und Beaubourg ihre Partnerschaft im Februar 2018 für weitere fünf Jahre.
Ein weiteres Ausstellungsstück, das mich emotional gepackt hatte, waren die Notizbuch-Agenden von Ettore Sottsass. Sie begannen 1974. Auf jeder Seite war ein Monat abgebildet, senkrecht die Tage. Links und rechts der Tage waren Notizen und Skizzen zu sehen. Bei den jungen Menschen heute sind Bullet Journals hoch im Kurs. Sottsass hatte bereits vor fünfzig Jahren so eine Art Bullet Journal geführt, als noch kein Hahn danach gekräht hatte.
Nach dem Museumsbesuch schlenderten wir am Pier entlang und schauten uns bei den zahlreichen Restaurants die Speisekarten an. Das eine oder andere Lokal sah sehr ansprechend aus, aber uns schienen sie eher auf die Touristen abzuzielen, als lokale Küche anzubieten. Auf einem Platz spielten Musiker Swing und eine Tanzgruppe gab eine kleine Aufführung dazu. Wir schauten ein Weilchen zu und spazierten weiter bis zum Leuchtturm. Eine Etage höher gingen wir wieder zurück. Statt der professionellen Gruppe tanzten nun die Passanten und wir schauten von oben zu. Es herrschte eine friedliche, gemütliche Stimmung und ich genoss die Atmosphäre sehr.
Wieder beim Paseo del Parque angekommen, staunten wir, wie laut die Vögel pfeifen konnten. Der wundervoll angelegte Park lud zum Verweilen ein. Einige Blumen waren bereits im Februar verblüht, andere waren im Begriff, sich zu öffnen. Wir überquerten die Strasse und tauchten in die Altstadt ein. Vorbei am Teatro Romano steuerten wir das berühmte El Pimpi an, dessen Mitbesitzer kein geringerer als Antonio Banderas war. Wie zu erwarten war, gab es eine riesige Warteschlange. Wegen der Befürchtung, dass diese mehr der Berühmtheit als der Qualität geschuldet war, zogen wir weiter. Es gab noch unzählige Tapasbars, da sollte sich etwas finden lassen.
Eine zog uns magisch an und wir fragten nach einem Tisch. Da deutete der Kellner auf die vielen Leute an der Hausmauer, die sich in die Liste eingetragen hatten. Uns schwebte eine Tapasbar vor, die gut besetzt war, aber noch genau einen freien Tisch für uns hatte. Wie bestellt, geschah genau dies im «Pez Lola Taberna Marinera». Wir nahmen an einem Hochtisch Platz. Die Einrichtung war urchig-maritim. Wir fühlten uns auf Anhieb wohl und waren überzeugt, den richtigen Ort für ein paar Tapas gefunden zu haben. Der Vermout vom Fass stimmte uns perfekt auf das Essen ein. Wir wählten die Spezialiät von Málaga schlechthin: Boquerones con Limon. Die frittierten Sardellen waren fantastisch. Ein luftig-leichter Teig umhüllte die zarten Fischfilets. Kein Vergleich zu den schweren Fischknusperli, die man anderenorts bekam.
Nun war es Zeit, den Zauber des Carnavals zu spüren, bevor wir am Abend der Beerdigung der grossen Sardelle zum Ende dieses beiwohnen wollten. Es fing an zu tröpfeln, wie schade. Wir trotzten dem Regen und hörten mehreren Carnavalsgruppen zu, die hervorragend sangen. Kaum zu glauben, wie viele gute Sänger und vor allem Sängerinnen unterwegs waren.
Durch den Regen bildete sich auf der Naturstein-Gasse ein rutschiger Film. Ich hatte Angst auszurutschen, wie es mir kürzlich passiert war und ich mich am operierten Knie verletzt hatte. Die Physiotherapie war eben erfolgreich abgeschlossen und ich war glücklich, wieder schmerzfrei laufen zu können. Ich hakte mich bei Reiner ein, der Wanderschuhe trug und achtete vorsichtig auf jeden Schritt mit meinen Sneakers. Wir bogen in eine Gasse, wo wir ein Restaurant entdeckten, in dem wir etwas trinken wollten. Schwupps! Ich sass mit dem linken Bein ausgestreckt und dem rechten angewinkelt auf dem Boden. «Nicht schon wieder!». Mein Ausruf muss laut gewesen sein, denn vor mir drehten sich alle Köpfe um. Ein Mann, der im Begriff war, ein Haus zu betreten, eilte auf mich zu und stellte mich zusammen mit Reiner auf. Das ging so schnell über die Bühne, dass es auch ein Streich des Gehirns hätte sein können. Ich stand da und wartete, dass der Schwindel verschwand. Zum Glück schmerzte das Bein nicht annähernd so stark wie beim letzten Sturz.
«Wie geht es dem Knie?», fragte Reiner besorgt, als wir langsam in Richtung des Lokals gingen. «Es geht, aber mein Arm tut weh», antwortete ich. Wenn ich den Arm ruhig hielt, ging es, aber bewegen konnte ich ihn nicht ohne Schmerz. Ich fragte den Kellner, ob wir bloss etwas trinken dürften, denn wir waren noch satt. Er deutete auf einen freien Tisch im Inneren. Wir tranken eine Cola zum Aufputschen und entschieden, uns vor «El Entierro del Boquerón» im Hotel etwas zu erholen.
«El Entierro del Boquerón», die Beerdigung der grossen Sardelle, startet um 17:30 Uhr in der Calle Larios, führt über die Plaza de la Marina, die Avenida Manuel Augstín Heredia und gelangt weiter über den Paseo Palmeral de las Sorpresas, Muelle Uno, die Calle Vélez Málaga, die Calle Reding, die Calle Pintor Martínez Virel und schliesslich über den Paseo Marítimo Ciudad de Melilla bis zur Playa de la Malaguete. Hier angekommen, wird die Sardelle verbrannt und der Carnaval de Málaga geht zu Ende.
Nach 1.2 Kilometer Fussmarsch kamen wir im Hotel an. Der Schmerz im Ellbogen nahm zu und bald wurde klar, dass die Beerdigung ohne uns über die Bühne gehen musste. Stattdessen brachte uns ein Uberfahrer, der wegen der Feierlichkeiten im Strandbereich lange auf sich warten liess, in den Notfall eines Spitals. Die Rezeptionistin hatte uns die dazugehörige Adresse gegeben.
Die Frau am Empfang des Spitals schlug beinahe die Hände über dem Kopf zusammen, als sie hörte, dass ich aus der Schweiz kam. Sie sah wohl Schwierigkeiten auf sich zukommen. Der administrative Aufwand beinhaltete das Kopieren meiner Krankenkassenkarte und meines Passes sowie das Ausfüllen eines Formulars.
Es dauerte nicht lange und ich erklärte mein Anliegen für die Triage, dann war ich im Warteraum mit vielen anderen Notfallpatienten. Einige, vor allem ältere Herrschaften, sassen im Rollstuhl. Ein Mann in den Dreissigern sass völlig apathisch darin, die Arme ausgebreitet. Konnte er die Hände nicht bewegen? War er gelähmt? Sein Begleiter gleichen Alters regelte alles für ihn. Namen wurden aufgerufen. Manchmal nur der Vornahme, meist aber Vor- und Nachname.
«Gabriela?» Ich kam in einen Untersuchungsraum, dessen Boden voller Gips war. Zum x-ten Mal erklärte ich mein Anliegen. Die Ärzte drückten und drehten an meinem Arm. Der musste geröntgt werden. Das war klar. Wieder war Warten angesagt. Ich meinte zu Reiner, dass unsere Ferien nun wohl zu Ende wären, doch Reiner winkte ab. Ich solle erst das Untersuchungsergebnis abwarten, bis ich den Teufel an die Wand malte.
Es folgte das Röntgen, nach dem Röntgen wartete ich auf die Orthopäden. Ein Mann mit einer Platzwunde am Kopf kam von der Triage. Sein Shirt war voller Blut. Vermutlich sah es schlimmer aus, als es war.
Die Orthopäden bestanden aus einer Frau, die das Sagen hatte und einem Mann, der ihr zudiente. Mein Ehering musste ab. Einfacher gesagt als getan. Die Finger waren geschwollen, ausserdem tat der Arm weh. Die Ärztin zog und drehte am Ring. Sie bedeutete ihrem Helfer, Seife zu holen. Dieser kam mit Desinfektionsmittel zurück. Beim zweiten Mal hatte er die Seife gefunden, die grosszügig auf meinem Finger und auf dem Boden verteilt wurde. Schliesslich schaffte es die Ärztin, den Ring vom Finger zu bekommen und diesen dranzulassen.
Dann drehte sie an meinem Arm, bis ich vor Schmerzen schrie. Das musste in ganz Málaga zu hören gewesen sein. Als sie mit ihrer sadistischen Art fertig war, erklärte sie, dass ich nochmals geröntgt werden müsse, weil man meine Knochen nicht sähe. Diesmal kämen andere Einstellungen zu tragen, die sehr schmerzhaft seien, aber dafür zum Ziel führen würden.
Wir warteten wieder. Ich war sehr nervös, tat doch bereits die vorherige Behandlung weh. Der junge Mann im Rollstuhl war aus seiner Apathie erwacht. Sein Begleiter gab ihm ein Schreiben. Er konnte seine Hände bewegen, wenn auch nicht gut. So langsam wurde er ungeduldig. Er versuchte, sich mit den Füssen eine bessere Position zu verschaffen, um den Gang überblicken zu können. Dies gelang ihm nicht und sein Begleiter zeigte keine Ambitionen, ihn zu unterstützen.
Nach etwas Warten kam ich in den gleichen Behandlungsraum, wie für meine erste Untersuchung. Die Ärzte erklärten, dass der Arm gebrochen sei. Ich bekam einen Gips und eine grüne Schlinge in Form eines Sacks.
Ein letztes Mal musste ich im Wartebereich platznehmen. Die Orthopäden wollten mir noch den Abschlussbericht geben, aber sie waren gerade am Operieren. Der Raum war fast leer. Nur noch zwei andere Patienten warteten auf eine Behandlung. Plötzlich herrschte Hektik. Eine Frau, die mit dem Rollstuhl hereingebracht wurde, kollabierte. Sofort war sie von Fachleuten umringt, ihre Beine wurden hochgehalten und im Rennen hoben sie sie auf ein Krankenbett und stoben davon. Zurück blieben ein leerer Rollstuhl und zwei rosafarbene Pantöffelchen.
Ich wurde wieder ins Behandlungszimmer gerufen, das von Ärzten wimmelte. Es herrschte lockere Feierabendstimmung. Der Orthopäde versuchte mir etwas mitzuteilen, aber ich konnte nicht verstehen, was er sagen wollte. Er versuchte es auf Englisch, aber sein Akzent war so heftig oder ich inzwischen so fertig, dass ich nicht mehr aufnahmefähig war. Ich bat Reiner, Google Translate oder Deepl zu starten. Reiner übergab den Ärzten sein Handy und die taten sich schwer, die Buchstaben zu finden. Die Schweizer Tastatur unterschied sich stark zur spanischen. Es wurde getippt und herumgealbert. Letztlich stand auf dem Display, dass ich operiert werden müsste. Wenn ich dies bei ihnen machen lassen würde, müsste ich bis zu 10 Tagen auf einen Termin warten. Es gäbe noch die Möglichkeit in eine Privatfirma (Privatklinik?) zu gehen oder mich in meinem Land einer Operation zu unterziehen.
Ich überlegte hin und her. «In meinem Land» klang in meinen Ohren am besten. Konnte dies drei Wochen warten? Wir waren schliesslich erst am Anfang von unseren Ferien. Ein paar Tage könnte man die Operation hinausschieben, aber auf keinen Fall drei Wochen. Trotzdem entschied ich mich für die Schweiz, auch wenn das bedeutete, früher nach Hause zu fliegen.
Rund vier Stunden nach Spitaleintritt bekam ich einen Abschlussbericht und ein Rezept für Schmerzmittel, dann warteten wir ein paar Minuten auf Uber, der uns zur Unterkunft zurückfuhr. Im Hotelzimmer angekommen, fiel mir ein, dass in Granada eine schöne Badewanne auf mich wartete, die ich mit einem eingegipsten Arm nicht nutzen konnte. Besser war es, das Hotel zu stornieren. Als ich bei Booking.com auf die Buchung tippte, bekam ich die Meldung «Sie haben noch 3 Minuten Zeit, das Hotel kostenlos zu stornieren». Es war genau 23:56 Uhr und bis 23:59 Uhr lief die Frist. Das war knapp.
Ich versuchte zu schlafen, was nicht wirklich gelang. Plötzlich war alles klar: Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause.